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Wissensarbeit
im digitalen Wandel

ZWISCHEN SELBSTVERWIRKLICHUNG
UND SELBSTAUSBEUTUNG

Interview mit Dr. Dirk Osmetz und Dr. Stefan Kaduk
Musterbrecher® Managementberater Osmetz + Kaduk Partnerschaft

Wissensarbeit in der VUCA-Welt: Wie verändert sich die Wissensarbeit und deren Bedeutung im Zuge der Digitalisierung?

Dr. Dirk Osmetz: Klar ist, die Komplexität der Wissensarbeit nimmt zu – allein schon deshalb, weil der Vernetzungsgrad im gesamten Umfeld steigt. Und dies führt zu weiteren Veränderungen: Einerseits steigt der Anteil an Problemstellungen, deren Bearbeitung Intuition und Kreativität erfordert. Andererseits nimmt die Digitalisierung den Wissensarbeitern immer mehr Aufgaben ab. Nicht nur die herkömmlichen Sachbearbeiter-Jobs oder große Teile davon werden zunehmend durch Algorithmen ersetzt, auch Wissensarbeiter, die sich mit komplizierteren Fragestellungen auseinandersetzen, spüren diese Veränderungsdynamik natürlich – und werden sich in diesem Zuge bewusst, dass sie sich selbst verändern müssen, um zu bestehen.

Dr. Stefan Kaduk: Der als notwendig erkannten Veränderung steht aber in vielen Fällen die Realität bzw. das sprichwörtliche Beharrungsvermögen von Organisationen entgegen. In den meisten Unternehmen beobachten wir heute einen Widerstreit zwischen alter Logik und einer neuen Denke, die notwendig wäre, um in dem immer komplexeren Umfeld erfolgreich zu sein. Dies sorgt für ein wachsendes Spannungsfeld zwischen Wissensarbeitern und Unternehmen.

Ermächtigung der Mitarbeiter oder Digitaler Taylorismus*: Wohin tendieren die Unternehmen bei der Ausrichtung von Kultur, Führung und Organisation sowie beim Technologieeinsatz im Zuge des digitalen Wandels?

Dr. Stefan Kaduk: Ich beobachte in vielen Unternehmen eine Fortsetzung der alten Welt mit neuen Mitteln. Das viel zitierte „New Work“, das mit einer Ermächtigung der Mitarbeiter einhergehen soll, sorgt dabei oft für einen netten Anstrich, mehr aber auch nicht. So wird sich heute in vielen Unternehmen geduzt, gleichzeitig aber muss jede noch so kleine Entscheidung mehrfach abgesegnet werden, auch wenn das dann Pitch genannt wird. Sprich, die alte Command & Control-Logik lebt oft weiter, sehr subtil und im Gute-Laune-Modus. Sie wird in einigen Fällen mit den Möglichkeiten der Digitalisierung sogar noch ausgefeilter betrieben (z. B. durch Timetracking-Systeme).

Gleichwohl sind sich die meisten Verantwortlichen einig darüber, dass es einer neuen Denke bedarf. Und viele Unternehmen arbeiten ja auch schon mit Experimentierräumen – oft betitelt als Digital Labs. Und doch kommen die meisten Akteure bislang nicht aus der alten Logik heraus. Selbst viele Start-ups, die sich ursprünglich zum Ziel setzten, die alte Welt hinter sich zu lassen und eine neue Denke zu etablieren, fallen darunter. Über kurz oder lang fühlen sie sich durch die Stakeholder gefordert, möglichst schnell zu skalieren und Gewinne einzufahren, und greifen in der Reaktion darauf dann doch wieder auf die alte Logik zurück.

Dr. Dirk Osmetz: Um dies zu ändern, müssten wir an das Grundprinzip ran. Wir erleben in den letzten Jahren einen Siegeszug der Digitalisierungen, aber in ihrem Schatten gewinnt eine alte Bekannte mehr und mehr Einfluss – die Organisation. Die einzelnen Mitarbeiter treten Rechte und Verantwortung an eine Organisation ab, die umgekehrt ein hohes Maß Reproduzierbarkeit und Sicherheit gewährleistet. Dieses Prinzip war über viele Jahre hinweg erfolgreich und hat sich so in den Köpfen festgesetzt, dass es nicht nur die Art und Weise der Zusammenarbeit bestimmt. Mittlerweile wird nahezu jeder gesellschaftliche Bereich – einschließlich des Findens eines Partners oder einer Partnerin fürs Leben – von Organisationen gemanagt.

In der immer komplexeren Welt trifft Organisation als Prinzip zunehmend auf Widersprüche – und doch tun wir uns schwer damit, es infrage zu stellen. Tatsächlich haben viele Unternehmen in den letzten Jahren neue agile Vorgehensweisen ausprobiert und Kulturinitiativen gestartet, aber an dem Organisationsprinzip nur wenig geändert. In der Folge wurden Erwartungen enttäuscht, was wiederum als Beleg dafür hergenommen wurde, dass die alte Logik doch besser funktioniert.

Dr. Stefan Kaduk: Deshalb plädieren wir für Experimente, mit denen in Teilbereichen der Organisation eine neue Struktur ausprobiert wird, die der gelebten Umsetzung einer neuen Denke – Stichwörter: Eigenverantwortung, Effektivität, Agilität – nicht im Wege steht.

Die Corona-Krise bescherte den Unternehmen solch ein Experiment – wenngleich ein unfreiwilliges. Tatsächlich wurde während des Lockdowns vielfach deutlich, dass angestammte Organisationsprinzipien – zum Beispiel umständliche Unterschriftenregelungen – überflüssig, ja regelrecht hinderlich sind. Wenn solche Experimente aber nicht bewusst durchgeführt bzw. im Falle von Corona nicht als Chance begriffen werden, dann versiegt diese Erfahrung wieder. Anstatt nach Aufhebung des Lockdowns die Struktur zu modernisieren, werden nun vielfach große Rückführungsprogramme gestartet mit dem Ziel, den Status quo wiederherzustellen.

Ihre Tipps für Wissensarbeiter und Führungskräfte?

Dr. Dirk Osmetz: Den meisten Führungskräften ist heute klar, dass eine Vertrauenskultur notwendig ist, um in der VUCA-Welt zu bestehen. Aber niemand weiß genau, welche strukturellen Änderungen notwendig sind, damit Vertrauen entsteht. Wissen werden wir es nur, wenn wir unsere Hypothesen hierzu auf den Prüfstand stellen. Und da sind wir wieder beim Experimentieren, es bleibt uns in der VUCA-Welt schlicht nichts anderes übrig. Innovation – hier im Sinne einer Neuorganisation der Wissensarbeit – gelingt nicht ohne Irritation.

Dr. Stefan Kaduk: Dies gilt für alle Ebenen, für einzelne Menschen genauso wie für die Unternehmen und für die Gesellschaft. So ist heute jeder Wissensarbeiter gefordert, neue Wege auszuprobieren und sich neuen Erfahrungen zu stellen, um sich weiterzuentwickeln. Dies ist allerdings einfacher gesagt als getan und verbunden mit großer Unsicherheit. Schließlich sind die Menschen auch eingebunden in Organisationen und die Gesellschaft. Ein Ausscheren aus der angestammten Rolle könnte bei anderen auf Missfallen stoßen – ja, im schlimmsten Fall sogar die Existenz gefährden.

Dr. Dirk Osmetz: Und an dieser Stelle sind wiederum die Unternehmen und die Politik gefragt. Wer eine fortlaufende Weiterentwicklung bzw. mehr Eigenverantwortung der Wissensarbeiter einfordert, sollte umgekehrt auch Strukturen schaffen, in denen man sich ausprobieren kann, ohne Existenzrisiken in Kauf nehmen zu müssen. In diesem Rahmen ließen sich verschiedene Themen diskutieren – von Lernzeitbudgets in den Unternehmen bis hin zum Bürgergeld oder zu einem bedingungslosen Grundeinkommen in der Politik.

Das Interview führte Dr. Andreas Stiehler.

 

 

* Das von dem Ingenieur Frederick Winslow Taylor Anfang des 20. Jh. entwickelte Prinzip der wissenschaftlichen Betriebsführung beinhaltet u.a. die Trennung von ausführender und planerischer Tätigkeit sowie die Optimierung der Prozesssteuerung durch standardisierte Arbeitsabläufe. Kritik erfuhr dieses System vor allem durch die Aufteilung der Arbeit in immer kleinere Aufgaben, die zu Monotonie und Entfremdung vom eigentlichen Produkt führten

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