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Wissensarbeit
im digitalen Wandel

ZWISCHEN SELBSTVERWIRKLICHUNG
UND SELBSTAUSBEUTUNG

Interview mit Prof. Dr. Gerald Lembke
Professor für Medienwirtschaft und Medienmanagement (DHBW Mannheim) und Gründer der Vertiefungsrichtung Digitale Medien mit dem Schwerpunkt „Medienmanagement und Kommunikation“

Wissensarbeit in der VUCA-Welt: Wie verändert sich die Wissensarbeit und deren Bedeutung im Zuge der Digitalisierung?

Auf der einen Seite – so beobachte ich aus eigenen Studien – arbeiten immer mehr Menschen völlig selbstverständlich und automatisiert mit den neuen Technologien. Sie möchten das auch gar nicht missen, obwohl sie merken, dass – und jetzt kommt die andere Seite – sie damit meist nicht besser, häufig sogar unproduktiver werden. Im gleichen Zuge haben sich Quantität und Vielfalt der Aufgaben ebenso wie die Qualität der Anforderungen und das geforderte Tempo für deren Adressierung gefühlt deutlich erhöht. Viele Menschen betrachten es unter diesen Umständen als eine zentrale Herausforderung, noch psychisch fit und mental aufnahmefähig zu bleiben.

Kurzum: Der Großteil der Wissensarbeiter verfügt bislang nicht oder nicht ausreichend über die Fähigkeit, mit den neuen Technologien zielgerichtet umzugehen. So kann man dank Digitalisierung beispielsweise in kürzester Zeit zig Studien recherchieren, die für mein Thema relevant sind. Um daraus Wissen zu generieren, müsste ich diese aber konzentriert lesen und in dieser Zeit auch das Laptop zuklappen. Und genau das passiert zumeist nicht: Wir bespielen vielmehr weiter den digitalen Raum und wundern uns, dass wir unsere Ziele nicht erreichen.

Das ist bei den Studenten nicht anders. Die sind sehr gut darin, digitale Services zu konsumieren und mit den neuen Technologien triviale Anwendungen zu realisieren, also zum Zeitvertreib zu skypen, zu twittern oder zu facebooken. Die meisten scheitern aber daran, die gleichen Technologien sinnvoll zu Verbesserung von betrieblichen Abläufen einzusetzen – also damit technische Workflows zu gestalten oder Automatisierungsstrecken zu entwickeln. Skypen können alle, aber Skype systematisch und effektiv in einen Verkaufsprozess zu integrieren, schaffen die wenigsten.

Ermächtigung der Mitarbeiter oder digitaler Taylorismus*: Wohin tendieren die Unternehmen bei der Ausrichtung von Kultur, Führung und Organisation sowie beim Technologieeinsatz im Zuge des digitalen Wandels?

Die meisten Unternehmen stehen bei der effektiven Umsetzung digitaler Technologien aus meiner Sicht immer noch ganz am Anfang. Die Digitalisierung geht einher mit vielen Wunschvorstellungen, die sich aber nicht einlösen lassen, weil schlicht die Voraussetzungen nicht gegeben sind. So sind die Unternehmen erstens gefordert, die kulturellen Rahmenbedingungen zu schaffen – also ein passendes Mindset zu schaffen und insbesondere den Menschen die Angst zu nehmen, dass deren Jobs wegrationalisiert werden.

Zweitens müssen organisatorische Anpassungen vorgenommen werden – was extrem schwerfällt, da die Organisationen heute extrem auf Effizienz gedrillt sind. Ein hochautomatisierter Vertriebs- oder Marketing-Funnel zum Beispiel produziert eine solche Masse an Informationen, dass sie von einem normal denkenden Menschen nicht mehr vernünftig verarbeitet werden kann. Dafür wären Interpretations-, Kontext- und Auswertungsmuster notwendig. Deren Generierung ist aber eine hochintellektuelle Arbeit, die ein Sales- oder Marketing-Facharbeiter nicht allein leisten kann.

Dies bringt mich zum dritten Punkt. Die Strukturen müssen angepasst werden – und wir brauchen Menschen, welche in den neuen Strukturen produktiv arbeiten können. Es braucht Digital Knowledge Worker, die in der Lage sind, die Daten aus den Systemen betriebswirtschaftlich vernünftig zu interpretieren und daraus Mehrwerte zu genieren. Die gibt es aber bislang kaum. Punkt!

Dabei mangelt es nicht nur an der Weiterbildung der Mitarbeiter, sondern auch und insbesondere an der Vorbild- und Vorlebefunktion der Führungskräfte, deren Denken noch von der alten Welt geprägt ist. So genügt es eben nicht, die große digitale Strategie auszurollen, wenn die Menschen dabei auf der Strecke bleiben. Wer Unternehmen in der digitalen Welt nach vorne bringen will, muss sie als ganzheitliches System verändern.

Vielfach wird stattdessen versucht, mit Unternehmensorganisationen, die seit 50 Jahren Bestand haben, digitale Vorhaben zu gestalten, die 50 Jahre in die Zukunft hineinreichen. Das kann nicht funktionieren! Zudem vergessen wir, worum es im Kern geht. Nämlich, dass Unternehmen ganzheitliche Gebilde sind, die von Menschen getragen und getrieben werden. Um solche Systeme zu verändern, braucht es mehr Transparenz, mehr Kommunikation sowie klare Regeln für den Austausch und die Lösung von Konflikten. Wichtig auch: Wir benötigen Erwartungs- anstelle von Stellenbeschreibungen. Immerfort fokussieren wir uns auf das Quantifizierbare und beschäftigen uns viel zu wenig mit den Erwartungen, die Menschen aneinander haben. Deswegen funktionieren viele Unternehmen nicht, sobald sich – wie jetzt in der Corona-Krise – das Umfeld verändert.

Die nächste Generation wird dies vielleicht etwas besser machen, aber bis dahin vergeht viel Zeit, die wir nicht haben. Anstatt auf die Evolution zu hoffen, sollten wir besser Evolutionsprozesse von Unternehmen verstehen lernen, um sie strategisch gestalten zu können. Hierzu bedarf es keiner neuen Managementtechniken oder Methoden. Vielmehr sind die Unternehmenslenker gefordert, sich mit den Menschen im Unternehmen zusammenzusetzen und Vereinbarungen für einen Interessenausgleich zu finden. Was uns fehlt, ist einfach ein neues Menschenbild, in dessen Rahmen die Mitarbeitenden als vollwertige Partner und nicht als Erfüllungsgehilfen angesehen werden.

Ihre Tipps für Wissensarbeiter und Führungskräfte?

Als ersten wichtigen Tipp für die Wissensarbeiter möchte ich dazu anregen, einmal durchzupusten und sich bewusst zu machen, was im Arbeitsalltag tatsächlich passiert. Viele Menschen verbringen täglich zwölf Stunden und mehr mit digitalen Werkzeugen, um Informationen und Daten zu recherchieren und auszutauschen. Für die Verarbeitung des Ganzen aber fehlt die Zeit und insbesondere die Aufmerksamkeit, da wir permanent abgelenkt werden. Wir sind eben nicht multitaskingfähig: Im Endeffekt machen wir viel, aber schaffen nichts. Ergo: Wir müssen wieder lernen, uns zu konzentrieren.

Zweitens sollten wir prüfen, welche Tools und Medien sich für unsere Zwecke eignen und wie sie sich effektiv nutzen lassen. Und hier spreche ich bewusst nicht von standardisierten Unternehmensanwendungen – vielmehr halte ich es für sinnvoll, die Mitarbeiter selbst, entsprechend ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen, über den Tooleinsatz entscheiden zu lassen. Und wenn die eine Person digitale Gadgets und eine andere Person analoge Werkzeuge bevorzugt, dann sollen die das bitte schön so umsetzen. Entscheidend ist ja am Ende nicht, dass wir uns auf ein neues digitales Werkzeug einigen, sondern dass die Arbeit gut und effizient im Sinne der Kunden gestaltet wird.

Und damit wäre ich auch bei einem dritten Tipp: Trotz oder gerade wegen der vielfältigen Möglichkeiten, welche die Digitalisierung bietet, sollten wir zunächst schauen, was die Menschen, also unsere Kunden, wirklich brauchen und wollen: Machen also mehr Effizienz und mehr Tempo unsere Kunden in jedem Fall tatsächlich glücklicher? Sicher nicht. Bei der Ausrichtung der KPI-Systeme nehmen wir dies aber häufig an, ohne diese Annahme genauer zu hinterfragen. Dies sollten wir aber tun! Denn wenn die Kunden im Zuge unserer Digitalisierungsbemühungen nicht glücklicher werden, dann wäre die Arbeit sinnlos. Und wenn die Mitarbeiter ihre Arbeit als sinnlos empfinden, sinkt ihre Motivation und Loyalität.

Das Interview führte Dr. Andreas Stiehler.

 

 

* Das von dem Ingenieur Frederick Winslow Taylor Anfang des 20. Jh. entwickelte Prinzip der wissenschaftlichen Betriebsführung beinhaltet u.a. die Trennung von ausführender und planerischer Tätigkeit sowie die Optimierung der Prozesssteuerung durch standardisierte Arbeitsabläufe. Kritik erfuhr dieses System vor allem durch die Aufteilung der Arbeit in immer kleinere Aufgaben, die zu Monotonie und Entfremdung vom eigentlichen Produkt führten.

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