Lernmotivation ist die größte Hürde beim Reskilling

In Schulen und Universitäten stehen fachliche Fähigkeiten im Fokus, obwohl soziale Skills für den beruflichen Erfolg mindestens ebenso wichtig sind. Warum sich auch Firmen mit einer gezielten Schulung dieser Skills schwertun und noch immer mehr auf Up-, statt auf Reskilling setzen, haben wir mit Miriam Mertens besprochen. Sie ist Gründerin von Deepskill, dem deutschen Pionier in Sachen Future Skills in der Transformation.
1. Die Mehrheit der Befragten gab im aktuellen HR-Report von Hays und dem Institut für Employability an, verstärkt auf Upskilling, also klassische Weiterbildung, zu setzen, obwohl sie mitten in der Transformation sind. Umschulungsmaßnahmen, neudeutsch Reskilling, scheinen noch Neuland zu sein. Was würden Sie sagen, anhand welcher Kriterien man innerhalb der eigenen Organisation feststellen kann, welche Art der Qualifizierung Mitarbeitende eigentlich benötigen?
Unternehmen können schnell erkennen, wo Qualifizierungsbedarf besteht – sie müssen nur einen Blick auf die Marktdynamik werfen. Ändern sich zum Beispiel die Kundenanforderungen, etwa weil digitale Skills für hybride Verkaufsgespräche immer wichtiger werden, wird klar, wo es an Know-how fehlt.
Eine Skill-Gap-Analyse zeigt dann schnell, welche Kompetenzen noch ausgebaut werden müssen. Dabei kommt es darauf an, ob bestehende Jobs einfach neue Fähigkeiten brauchen oder ob Automatisierung die Jobrolle so stark verändert, dass ein kompletter Neustart nötig ist. Bei so einem Reskilling gibt es oft Widerstände – besonders, wenn es um die Lernmotivation geht.
2. Worin sehen Sie in der Praxis die größten Hürden oder Vorbehalte gegenüber Reskilling-Strategien? Insbesondere bei den Führungskräften?
Reskilling wirkt oft abschreckend, weil es mit viel Zeit- und Kostenaufwand verbunden ist – dazu kommen Unsicherheiten, die neue Rollen und veränderte Hierarchien mit sich bringen. Besonders Führungskräfte fürchten Statusverlust oder fühlen sich vom Tempo der Veränderung unter Druck gesetzt. Sie können diese Vorbehalte aber abbauen, indem sie sich selbst als Lernende sehen und im Team positionieren: Ein Vertriebsleiter, der neue Tools für datengetriebene Entscheidungen nutzt, oder eine Produktionsleiterin, die sich in KI-gestützte Prozessoptimierung einarbeitet, zeigen, dass Weiterbildung auf jeder Ebene möglich ist.
3. Apropos Führungskräfte, wie ist es generell um deren Lernmotivation bestellt, zumal sie insgesamt erfahrener sein und häufig auch mehr Seniorität mitbringen dürften?
Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass die Lernmotivation von Erfahrenen eher rational begründet ist. Erfahrene Mitarbeitende oder auch Führungskräfte denken zum Beispiel häufig: „Ich arbeite mich jetzt in die Anwendung künstlicher Intelligenz ein, da es für mich ansonsten eng auf dem Arbeitsmarkt wird.“ Wenn Erfahrene beispielsweise von Anfang an in einen Entwicklungsprozess für KI eingebunden werden, steigt die Motivation. Die Jungen sind eher durch ein Top-down-Training motiviert.
4. Wie bereit ist die Alterskohorte der Erfahrenen für ein Reskilling im Vergleich zu anderen Generationen? Dieser Zielgruppe wird oft mangelnde Anpassungsfähigkeit unterstellt.
Generell kann man sagen, dass junge Mitarbeitende sich leichter tun, Dinge über ein Video oder ein Software-Tool zu erlernen, ältere hingegen möchten gern ihre kristalline Intelligenz einsetzen, also ihr erworbenes Wissen anbringen. Im Zuge des Reskillings könnte das zum Beispiel die Frage sein: „Wie bekommen wir die neuen Prozesse, Inhalte oder Rollen denn nun in der Organisation implementiert? Wie kommunizieren wir die Änderungen im Team?“ Unternehmen sollten also unbedingt darauf achten, dass erfahrene Mitarbeitende ihre überfachlichen oder sozialen Kompetenzen wie Urteils- oder Einfühlungsvermögen einbringen können, um neue Fähigkeiten zu erlernen.
5. Laut HR-Report spielen diese sozialen Kompetenzen für die Unternehmen bei der Weiterqualifizierung allerdings eine untergeordnete Rolle. Sie wollen in erster Linie bei digitalen Skills ansetzen. Wie bewerten Sie diese Gewichtung?
Der Fokus auf digitale Fähigkeiten greift zu kurz – denn Technologie ist nur so gut wie die Menschen, die sie nutzen. Tools allein bringen wenig, wenn Mitarbeitende sie nicht strategisch, kollaborativ und ethisch reflektiert einsetzen können. Ein hochmodernes CRM-System bringt keinen Mehrwert, wenn Vertriebsteams nicht die Empathie und Kommunikationsstärke haben, um Daten richtig zu interpretieren und gezielt auf Kundenbedürfnisse einzugehen.
Genauso wichtig sind emotionale und soziale Kompetenzen: Führungskräfte brauchen emotionale Intelligenz, um Veränderungsprozesse empathisch zu begleiten und Sicherheit zu geben. Kollaborationsfähigkeit ist entscheidend für hybride Teams, damit digitale Zusammenarbeit funktioniert. Und mit Change Resilience können Mitarbeitende Unsicherheiten und technologische Umbrüche aktiv bewältigen. Diese Fähigkeiten findet man übrigens am häufigsten bei den Berufserfahrenen.
6. Sowohl Up- als auch Reskilling-Lernformate finden größtenteils in Präsenz oder online statt. Ist es zielführend, diese beiden sehr unterschiedlichen Skilling-Ansätze über ähnliche Lernformate zu schulen?
Während Upskilling oft mit flexiblen Onlineformaten wie E-Learnings oder Webinaren funktioniert, braucht Reskilling eine tiefere Begleitung. Hier geht es um den Wechsel in ein völlig neues Tätigkeitsfeld – und das klappt nicht allein durch Selbstlernen. Praxisnahe Formate, wie Peer-Learnings (Lernen unter Gleichgestellten, Anmerkung d. Red.), helfen, Unsicherheiten abzubauen und den Lernprozess nachhaltig zu gestalten.
Reskilling erfordert zudem emotionalen Support: Peer-Learning und individuelles Coaching können Widerstände reduzieren und das Selbstvertrauen stärken. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einem gut durchdachten Mix aus digitalen Lernangeboten und persönlichem Austausch.
Kontinuierliche Lernkultur etablieren
Eine Lernkultur, die den Alltag einbindet, sorgt dafür, dass Wissen und Weiterqualifizierung tiefer verankert werden können und langfristige Veränderungen möglich werden. Mitarbeitende befassen sich intensiver mit den Themen, was zu höheren Teilnahmequoten und nachhaltigem Erfolg führt. Damit Lernen zum integrierten Teil des Arbeitsalltages von Beschäftigten und Führungskräften werden kann, empfiehlt Miriam Mertens folgende drei Faktoren:
Lernen als strategischer Erfolgsfaktor: Unternehmen, die Weiterbildung nicht als einmalige Maßnahme, sondern als kontinuierlichen Prozess verstehen, steigern ihre Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit.
Führungskräfte als Vorbilder: Wenn sie selbst aktiv lernen und Lernmöglichkeiten fördern, sinken Widerstände im Team. Eine Lernkultur, in der Entwicklung im Fokus steht, nimmt die Angst vor Veränderung.
Offene Fehlerkultur: Besonders beim Reskilling sind Fehler Teil des Prozesses. Wer experimentieren darf, baut Unsicherheiten ab und entwickelt nachhaltige Kompetenzen. Kurz gesagt: Eine Lernkultur, die Weiterbildung fest in den Arbeitsalltag integriert, macht Unternehmen zukunftsfähig.
Zur Person:
Fachliche Fähigkeiten dominieren die Ausbildung, doch für den beruflichen Erfolg sind emotionale Skills ebenso entscheidend. Das erkannte auch Deepskill-Mitgründerin Miriam Mertens: Projekte mit Fokus auf Vertrauen und Teamdynamik gelten in der Praxis als besonders erfolgreich. Aus dieser Erkenntnis entstand im April 2020 das Unternehmen Deepskill, ein Kölner HR-Tech-Start-up, das KI-gestützte individualisierte Lernprogramme für Future Skills, also kritisches Denken und Kooperationsfähigkeit, anbietet. Das Team umfasst mittlerweile 14 Mitarbeitende, vereint Expertise aus Wirtschaft, Psychologie und Technologie, hat bereits viele Auszeichnungen im Bereich Innovation erhalten und ist seit seiner Gründung kontinuierlich auf Wachstumskurs.