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17.07.24
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Arbeitswelt & Karriere

Yes, we care! Warum Familienarbeit in die Unternehmen und Lebensläufe gehört

Care
© Getty Images (andreswd)
117 Milliarden – so hoch ist die Zahl der Stunden, die in Deutschland laut dem Forschungsinstitut Prognos jedes Jahr an unbezahlter Care-Arbeit wie Kinderbetreuung, Haushalt und Pflege geleistet werden. Doch kaum jemand spricht darüber oder nimmt diese Tätigkeit in den Lebenslauf auf. Höchste Zeit, das zu ändern, meint unsere Autorin Anna Lüttgen, Director Talent Delivery bei Hays.

Meine Freundin, nennen wir sie Sabine, hat studiert. Literaturwissenschaft, mit Prädikatsexamen. Dann fing sie an zu arbeiten, in einem Verlag – ihr Traumjob! Dort lernte sie nach kurzer Zeit auch Klaus kennen und lieben. Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Sie zog von Berlin aufs Land. Bekam zwei Kinder. Kümmerte sich um die Familie. Die Kinder wurden groß, die Eltern irgendwann pflegebedürftig. Sabine war immer für alle da, während Klaus Karriere machte. Sabine kümmerte sich gerne und gut. Alle konnten sich auf sie verlassen. Nebenbei hatte Sabine zahlreiche Ehrenämter in ihrer Gemeinde inne. Bekam immer alles irgendwie unter einen Hut. Sie hatte ja auch Zeit, klar.

Neulich traf ich Sabine nach längerer Zeit wieder. Sie war nicht glücklich. Die Kinder waren mittlerweile aus dem Haus. Ihre Eltern in einem Pflegeheim. Und sie stellte sich (und mir) die Frage: Was kann ich denn jetzt noch mit meinem Leben anfangen? 50 Jahre alt, in den vergangenen 22 Jahren nicht sozialversicherungspflichtig gearbeitet. Wer nimmt mich denn? Was kann ich denn beitragen? In ihrem Kopf waren ganz viele Fragen, Sorgen und Zweifel. Klischee, denken jetzt sicher viele Lesende. Aber glauben Sie mir, Sabines gibt es viele da draußen. Und während die DAX-Vorstände mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Thomas oder Christian heißen, tragen die Familien-Arbeitenden mehrheitlich weibliche Namen.

Gender Care Gap – ein gesellschaftliches Phänomen

Zahlen gefällig? Der Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Zeitaufwand für unbezahlte Sorgetätigkeiten von Frauen und Männern beträgt pro Tag 44,3 %, wie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorrechnet . Dieser sogenannte Gender Care Gap beschreibt ein gesellschaftliches Phänomen, das große Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen hat. Denn Frauen investieren viel Zeit in die Care-Arbeit, die ihnen dann natürlich nicht für ihre berufliche Karriere zur Verfügung steht. Mehr noch: Sie arbeiten in den meisten Fällen unentgeltlich, was mit Blick auf die Altersvorsorge negativ zu Buche schlägt und darüber hinaus im Alltag auch oft zu Mikroaggressionen führt. Denn die kleine Frage „Arbeitest du?“ beinhaltet meist unausgesprochen den Zusatz „gegen Geld?“. Und impliziert, dass alles andere dann auch keine Arbeit sein kann. Irgendwie ganz schön letztes Jahrhundert, so zu denken. Oder vorletztes. Erinnern Sie sich noch an die Werbung mit der Hausfrau, die „ein kleines, erfolgreiches Familienunternehmen leitet“? Ich glaube, heutzutage würde man sagen: Cringe! 

Mutter spielt mit Kind © Getty Images

Du verdienst kein Geld? Dann ist es auch keine Arbeit!

Dem möchte ich hier einmal ganz lautstark widersprechen. Da das Thema unendlich viele Facetten hat, lohnt es sich, genau hinzuschauen. Beginnen wir in unserem Makro, der Volkswirtschaft: Statt des erwarteten Zuwachses von 50.000 Pflegebedürftigen kamen im vergangenen Jahr 360.000 dazu, wie die Tagesschau kürzlich meldete. Ungeklärt ist bislang, woher genau dieser rasante Anstieg kommt und wer diese Care-Arbeit leisten soll. Und das, wo in der Pflege ohnehin schon ein dramatischer Fachkräftemangel herrscht. An diesem Beispiel wird sehr deutlich, für wie viel gesellschaftliche Stabilität die Familienarbeitenden sorgen. Oder wie ist es sonst erklärbar, dass wir diesen unerwartet hohen Anstieg in unserem Alltag kaum wahrnehmen?

Schauen wir mal eine Ebene tiefer, in die Unternehmen. Hier hat das Thema eine besondere Brisanz. Auch wenn man angesichts der momentanen wirtschaftlichen Großwetterlage manchmal denken könnte, der demographische Wandel sei ein Mythos, bleibt der Fach- und Arbeitskräftemangel eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Viele Arbeitgeber spüren das bereits heute, und die kommenden Jahre werden zu einer weiteren Verschärfung führen. Dabei das Thema Familienarbeit im Kontext der eigenen Belegschaft zu ignorieren, wäre fahrlässig.

Glücklicherweise gibt es in vielen Firmen bereits Angebote für Mitarbeitende, die diese benötigen, wie zum Beispiel flexible Arbeitszeitmodelle, Beratungsservices und Mitarbeitendennetzwerke. Aber es gibt immer noch zu viele strukturelle Barrieren und mangelnde Offenheit für verschiedene Lebenssituationen. In einigen Köpfen ist leider immer noch nicht angekommen, dass das klassische „9-bis-5 vor Ort im Büro von Montag bis Freitag“ eher ein Auslaufmodell ist. Wer im War for Talents eine Chance haben möchte, muss schleunigst an seiner Haltung arbeiten, sonst gibt es eine böse Überraschung. Und die kommt manchmal schneller, als man denkt: Familiäre Care-Arbeit lässt sich oft nicht planen. Ein Angehöriger erkrankt schwer oder wird pflegebedürftig. Und schon fällt der Leistungsträger – oder meist eher die Leistungsträgerin – für längere Zeit aus.

Mit reinem Nine to Five verliert man den War for Talents!

Nochmal zurück zu meiner Freundin Sabine. Was sollte sie tun? Zunächst einmal: richtig stolz auf das sein, was sie in den vergangenen Jahren geleistet hat. Darüber reden, welche Erfahrungen und Kompetenzen sie während ihrer Care-Einsätze gesammelt hat. Und anstatt sich als Bittstellerin am Arbeitsmarkt zu fühlen, sollte sie sich Gedanken machen, zu welchen Bedingungen sie in dieses Karussell wieder einsteigen möchte.

Zum Glück bekommen die Familienarbeitenden immer mehr Sichtbarkeit und solidarisieren sich auch zunehmend. Ein hervorragendes Beispiel dazu findet sich auf LinkedIn. Die Coachin Franziska Büschelberger hat dort vor einigen Monaten eine neue Unternehmensseite angelegt: „Unpaid Care Work“. Dieses Unternehmen verzeichnet mittlerweile über 11.000 Mitarbeitende und sorgt für enorme Reichweite und Aufmerksamkeit. Die Botschaft: Zeigt in euren Lebensläufen auch eure Familienarbeitszeit auf! Und Arbeitgebende: Es kann nicht sein, dass Menschen aufgrund von freiwilliger Familienarbeit Karrierenachteile befürchten müssen! Diese und andere Initiativen erzeugen Sichtbarkeit und Solidarität. Das ist ein guter Schritt in die richtige Richtung.

Care-Arbeit fördert wichtige Fähigkeiten – auch und gerade für das Berufsleben

Glücklicherweise gibt es auch im Bereich der Fachkräftegewinnung Trends, die den Care Workern Grund zum Optimismus geben. Allen voran der Trend zum Skills-based Hiring, der langsam, aber sicher auch in Deutschland ankommt. Was bedeutet das konkret? In der Personalauswahl wird der Fokus deutlich stärker auf die Fähigkeiten gelegt, die jemand mitbringt, anstatt auf den perfekten Lebenslauf. So kann die Passung zwischen einer Stelle und einem Bewerbenden viel genauer ermittelt werden, als wenn man in alten Karriereschubladen wie Titel und einem lückenfreien CV denkt. Welche Attribute braucht es wirklich, um in einem Job erfolgreich zu sein? Und wie kann man diese Fähigkeiten auf Basis seiner Lebenserfahrung nachweisen? Familienarbeitende bringen erwiesenermaßen viele der heute hochrelevanten Fähigkeiten mit, die Unternehmen händeringend suchen: Organisationstalent im Alltag, empathische Kommunikation – sowohl innerhalb der Familie als auch mit Außenstehenden, Agilität – jeder Tag bringt neue Herausforderungen, Flexibilität im Denken und Handeln. Und: Durch die Familienarbeit sind diese Kompetenzen nachweislich vorhanden. Man muss im Vorstellungsgespräch nicht erst mühsam nach Beispielen suchen, sie finden sich im Alltag zuhauf.

Diese Entwicklungen stimmen mich optimistisch, dass wir zukünftig besser in der Lage sein werden, unser gesamtes Erwerbspotenzial in Deutschland besser zu nutzen. Das ist gut für jeden einzelnen, für Unternehmen und vor allem auch für die gesamte Gesellschaft!

Meine Tipps für Familienarbeitende – seid stolz auf eure Leistung und kommuniziert sie!

Was habe ich nun Sabine konkret geraten?

  1. Überleg dir ganz in Ruhe, was dir wichtig ist, und zu welchen Bedingungen du zukünftig arbeiten möchtest.
  2. Du hast viel anzubieten! Die Fähigkeiten und Erfahrungen, die du im Laufe deiner Familienarbeit erworben hast, sind hochrelevant für den Arbeitsmarkt: Welche sind das genau? Organisationsfähigkeit, Flexibilität, Agilität, Projektmanagement, Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und, und, und.
  3. Fülle deinen CV mit all deinen Stationen, bezahlt und unbezahlt.
  4. Trau dich! Wenn ein Job gut klingt, bewirb dich einfach. Und überlege dir, was dir daran gefällt und was du für diese Aufgaben alles anzubieten hast.
  5. Setze dir keine Grenzen im Kopf und mach dich nicht klein. Such dir Gleichgesinnte zur Unterstützung.
  6. Wer sind deine Referenzgeber, die deine Fähigkeiten und Erfahrungen bestätigen können?

 

Und was können Arbeitgeber tun, um ihre Mitarbeitenden bei der Familienarbeit zu unterstützen, zu entlasten und damit auch länger im Unternehmen zu halten?

  1. Bieten Sie flexible Arbeitszeitmodelle an – Teilzeitangebote, Homeoffice, auch unbezahlte Freistellung können eine Riesenentlastung für betroffene Mitarbeitende sein.
  2. Schaffen Sie Beratungsangebote für Ihre Mitarbeitenden. Entweder über eine eigene Stelle in der Personalabteilung oder in Zusammenarbeit mit darauf spezialisierten, externen Dienstleistern.
  3. Fördern Sie Mitarbeitendennetzwerke. Betroffene können sich so gegenseitig unterstützen, und die Bindung ans Unternehmen steigt.
  4. Weiterhin denkbar wären Services wie ein Unterstützungsangebot bei der Kinderbetreuung, konkrete Beratung bei schwierigen Situationen mit Behörden, Ämtern oder Versicherungen, psychosoziale Unterstützung u.v.m.
  5. Und ganz wichtig: Schaffen Sie Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit und Sensibilität für dieses Thema durch eine klare Kommunikation dazu in ihrem Unternehmen, idealerweise von der Geschäftsführung angefangen.

 

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Anna Lüttgen
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