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29.11.23
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Unternehmen & Märkte

„You have to walk the talk!“

Bild von Christian Schlüter
© Christian Schlüter

Quasi über Nacht wurde Tatjana Kiel von der Geschäftsführerin des Consulting-Unternehmens Klitschko Ventures zur Hilfsaktivistin, die mit der Initiative #WeAreAllUkrainians in großem Stil Unterstützung für die Ukraine organisiert. Ihr Credo: In den Aktionsmodus kommen und Haltung zeigen! Think ahead hat nachgefragt, was die Powerfrau darunter versteht.

Haltung zeigen – dieser Begriff erlebt derzeit Hochkonjunktur. Was bedeutet er für Sie persönlich?

Im Kleinen: dass meine Tochter in der Schule aufsteht und einschreitet, wenn sie beobachtet, wie jemandem Unrecht geschieht. Im größeren Kontext heißt „Haltung zeigen“ für mich, in die Diskussion zu gehen und eine Lösung zu finden, wenn man mit einer Situation nicht einverstanden ist, anstatt sich zu ducken und etwas einfach hinzunehmen.

Haben Sie schon immer in der beschriebenen Weise Haltung gezeigt oder hat der Ausbruch des Krieges in der Ukraine hier etwas verändert?

Früher war ich eher wie Annika, heute würde man mich wohl als Pippi bezeichnen, weil ich nicht mehr zögerlich bin, sondern tatkräftig verändern möchte. Ich wollte schon immer den Dingen auf den Grund gehen und sie von zwei Seiten verstehen, nicht nur von einer. Was ich aber durch den Kriegsausbruch gelernt habe ist, sehr offen und klar Stellung zu beziehen. Im Business-Kontext fällt das vielen schwer, weil es großen Mut erfordert, öffentlich Haltung zu zeigen, die vielleicht nicht immer bequem ist.

Haltung zu zeigen muss also ohne berufliche Gefahren möglich sein. Was wünschen Sie sich in diesem Zusammenhang von Unternehmen?

Je mehr Krisen wir erleben, desto wichtiger wird es, dass Unternehmensleitungen sehr schnell und sehr klar Haltung zeigen. Die muss nicht allen gefallen, aber sie muss authentisch sein. You have to walk the talk! Gleichzeitig sollte ein sicherer Raum für offene Diskussionen geschaffen werden, um Mitarbeitende mit anderer Meinung hören und gegebenenfalls abholen zu können. Sonst suchen sich Ärger, Angst oder Unsicherheit einen anderen, weniger transparenten Weg im Unternehmen.

Die Welt befindet sich derzeit in einer tiefgreifenden, multiplen Krise. Da rückt das Leid in der Ukraine schnell aus dem medialen Fokus. Was können Unternehmen tun, um weiterhin Haltung für die Ukraine zu zeigen?

Unternehmen können sich fragen, was ihr Social Impact sein kann, wie sie – gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden – messbar Wirkung erzielen können. Ob es zum Beispiel genügt, einfach nur eine Summe X zu spenden, oder ob man ganz konkrete Projekte, mit denen sich Mitarbeitende identifizieren und in die sie bestenfalls auch ihre beruflichen Kompetenzen einbringen können, unterstützt.

Und was können wir als Individuen tun?

Der Krieg in der Ukraine ist mitnichten vorbei – und dabei meine ich nicht nur die militärische Auseinandersetzung. Noch immer werden Frauen vergewaltigt, Kinder deportiert. Das muss man sich immer wieder vor Augen halten, wenn auch nicht täglich, da der Stress sonst zu groß ist, gemessen an dem, was wir aus Deutschland heraus tatsächlich tun können. Was uns jedoch allen möglich ist: Wir können mehr politisch darüber diskutieren, was in der Ukraine passiert. Das tun wir in Deutschland aus meiner Sicht viel zu wenig. Deshalb leistet #WeAreAllUkrainians auch Aufklärungsarbeit, z. B. über das Schicksal der verschleppten ukrainischen Kinder, die Wladimir und ich in unserem Buch „Gestohlene Leben“ ihre Geschichten selbst erzählen lassen.

Tatjana Kiel sitzt mit verschränkten Armen am Tisch und schaut in die Kamera© Christian Schlüter

Geschäftsführerin, Dozentin, Gesellschafterin und Hilfsaktivistin: Ihr Credo „Haltung zeigen“ lebt die Powerfrau Tatjana Kiel in vielen Rollen.

Sie haben gesagt, dass es nicht auszuhalten sei, sich jeden Tag Krisen auszusetzen. Selbst tun Sie das jedoch. Wie gelingt Ihnen das?

Ich weiß, dass ich mit meinem Team sehr viel schneller sehr viel mehr helfen kann, weil wir die Kontakte vor Ort und entsprechende Prozesse entwickelt haben. Umso schwerer fällt es mir natürlich, Ruhepausen einzulegen, weil sich dann sofort ein schlechtes Gewissen einstellt. Doch ich weiß auch, dass ich nur dann den größten Impact leisten kann, wenn ich auch auf meine eigenen Bedürfnisse achte. Nur so gelingt es, Resilienz aufzubauen.

Sie können sich abgrenzen. Doch wie gelingt dies den Menschen in der Ukraine, die seit fast zwei Jahren einem Kriegsalltag ausgesetzt sind?

Schon jetzt hat fast eine ganze Generation einen nahezu irreparablen Schaden erlitten. Seien es die Soldaten, die so viel Stress ausgesetzt sind, dass sie am Ende abhängig von Adrenalin werden und Selbstwirksamkeit nur noch im militärischen Kontext erfahren. Seien es die Kinder, die irgendwann nicht mehr antworten oder sprechen, weil sie traumatische Situationen durchlebt haben – durch Deportation, den Verlust von Familienmitgliedern oder die allgegenwärtige Gewalt und Gefahr. All diese Menschen brauchen täglich professionelle Betreuung, um über ihre Traumata reden und daran arbeiten zu können. Aus diesem Grund betreiben wir Hope & Healing Center oder Tageszentren für Kinder, die nicht nur psychologische Betreuung, sondern vor allem auch Routinen bieten. Denn in Krisensituationen ist es enorm wichtig, Routinen zu haben. Sie geben Struktur und damit ein Fundament, auf das man sich verlassen kann.

Die Arbeit als Hilfsaktivistin ist immer auch mit Rückschlägen und Enttäuschungen verbunden. Was hilft Ihnen, trotzdem weiterzumachen?

Egal, was kommt: Nicht in Panik verfallen, sondern erst einmal relativieren und Emotionen herausnehmen, denn die bringen einen überhaupt nicht weiter. Was dagegen hilft: Strukturen einzuführen, schnell Prozesse aufzusetzen und skalierbar zu werden. Ich merke immer wieder, wie ich diese Erfahrungswerte aus der Non-NGO-Welt in die NGO-Arbeit übertrage. Umgekehrt lerne ich aber gerade auch eine Menge im NGO-Bereich: Wo kann ich einen wirklichen Impact leisten? Wie kann ich Mehrwert für diese Welt generieren? Ich bin zutiefst überzeugt: Wenn wir unseren Kindern eine bessere Welt hinterlassen wollen, dürfen wir diese beiden Sphären nicht mehr so strikt voneinander trennen.

Können Sie das etwas präzisieren?

Bislang hatten die Unternehmen den wirtschaftlichen, die NGOs den sozialen Auftrag. Diese Trennung wird auf Dauer nicht mehr funktionieren. Immer mehr Menschen erwarten von den Unternehmen, dass sie nicht nur Geld erwirtschaften, sondern darüber hinaus auch gesellschaftliche Herausforderungen lösen und Verantwortung übernehmen. Wer ökonomisch erfolgreich sein möchte, wird auch sozial seinen Impact leisten müssen, weil das eine ohne das andere auf lange Sicht nicht funktioniert.

Wenn Sie in der jetzigen Situation einen Wunsch frei hätten, welcher wäre das?

Dass wir anfangen, darüber zu sprechen, warum es Krieg überhaupt noch gibt und was eigentlich Frieden bedeutet und was das eine wie das andere an Konsequenzen nach sich zieht. Darüber hinaus wünsche ich mir echte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, die darauf zielt, gemeinschaftlich Neues zu entwickeln. Dazu braucht es Männer, die bereit sind, Dinge anders anzugehen und als Role Model zu agieren, und Frauen, die sich trauen, ins kalte Wasser zu springen. Und es braucht die Bereitschaft, einander wirklich zuzuhören und sich gegenseitig verstehen zu wollen.

Tatjana Kiel © Christian Schlüter

Tatjana Kiel ist langjährige Geschäftspartnerin von Dr. Wladimir Klitschko. Zunächst war sie verantwortlich für die Marke und die Boxevents, seit 2016 ist sie CEO der Klitschko Ventures GmbH. In dieser Rolle verantwortet die Hamburgerin alle Geschäftsfelder der Methode FACE the Challenge, die sie gemeinsam mit Dr. Wladimir Klitschko entwickelt hat, um Unternehmen und Individuen bei Transformationsaufgaben zu unterstützen. Darüber hinaus ist Kiel, die ihr Wissen auch an der Universität St. Gallen weitergibt, gemeinsam mit Dörte Kruppa Geschäftsführerin der #WeAreAllUkrainians gGmbH. Das gemeinnützige Unternehmen, das sie in den ersten Kriegstagen zusammen mit Wladimir Klitschko initiiert hat, koordiniert mit Unternehmens- und Stiftungspartnern große nachhaltige Hilfsprojekte in der Ukraine und unterstützt ukrainische Flüchtlinge in Deutschland. Seit Juli 2023 begleitet Tatjana Kiel als Gesellschafterin der ebenfalls gemeinnützigen Score 4 Impact GmbH Unternehmen bei deren ESG-Aktivitäten auf den Ebenen Strategie, Projekt-Matchmaking und Reporting für messbaren und skalierbaren Impact.

Weiterführende Links:
Sie wollen mehr über die gemeinnützige Organisation #WeAreAllUkrainians erfahren oder eines ihrer Projekte unterstützten? Dann bitte hier entlang:
https://weareallukrainians.de/

 

Buchcover Gestohlene Leben

Gestohlene Leben: Die verschleppten Kinder der Ukraine

Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurden Tausende ukrainische Kinder und Jugendliche nach Russland deportiert. Dr. Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel, die für die Rückholung dieser Kinder kämpfen, erzählen in ihrem Buch über bewegende Schicksale und geglückte Rettungen.

 

Heyne Verlag
https://www.penguin.de/Buch/Gestohlene-Leben/Wladimir-Klitschko/Heyne/e624393.rhd
ISBN-13 978-3453218680

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Alexandra Maier
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